Geschichtsunterricht mal anders: Schüler erleben Haftalltag im Cottbuser Zuchthaus

30.09.2015

13 Schüler der 9. Klasse des Cottbuser Fürst-Pückler Gymnasiums begeben sich am 23. September auf eine Zeitreise zurück in eine dunkle Vergangenheit. Sie betreten am frühen Morgen das ehemalige Zuchthaus Cottbus und spüren sofort die beklemmende Atmosphäre dieses Ortes. Hohe Mauern, Gitter vor kleinen Fenstern, kein Baum, der das Gelände verschönern würde. Das Cottbuser Zuchthaus ist heute eine Gedenkstätte, betrieben vom Verein Menschenrechtszentrum Cottbus.

Der Verein hat sich im Jahr 2007 gegründet, um das Areal als Mahnmal und Gedenkstätte für politisches Unrecht und Menschenrechtsverletzung in der Zeit der NS-Terrorherrschaft sowie in der SED-Diktatur zu erhalten.  Fast einen ganzen Tag werden die Schüler im Rahmen eines Projekttages zum Thema „Politische Haft“ zwischen den roten Backstein-Gemäuern verbringen – von den Gefangenen die „rote Hölle“ genannt.

Dass die Schüler dieses Bildungsangebot kostenfrei nutzen können, geht auf eine Initiative zweier regionaler Stiftungen zurück. Die Bürgerstiftung Cottbus und Region und die Stiftung Lausitzer Braunkohle arbeiten bei diesem Projekt erstmals zusammen, um ihre jeweiligen Stiftungskompetenzen zu bündeln und für einen guten Zweck einzusetzen. Mehr als 700 Schüler aus 19 Schulen sowie 73 angehende Erzieher haben die stiftungsfinanzierten Bildungsangebote bereits genutzt. Zur Auswahl stehen dabei mehrstündige Seminare ebenso wie Projekttage oder mehrtägige Workshops.

„Die Gedenkstätte Cottbus ist ein außergewöhnlicher Lernort, der den Besuchern, vor allem aber jungen Menschen hilft, geschichtliche Zusammenhänge besser zu verstehen und zu bewerten. Die vielschichtigen Methoden des Herangehens an das Thema wecken Interesse, machen betroffen und ermöglichen eine emotionale und sehr nachhaltige Form der Auseinandersetzung“, begründet Sabine Brumma von der Stiftung Lausitzer Braunkohle das Engagement für die finanzielle Unterstützung der Bildungsangebote des Menschenrechtszentrums Cottbus.

Auf ihrer Webseite weist das Menschenrechtszentrum auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hin, Quelle www.menschenrechtszentrum-cottbus.de

Meinungsspiel „Hier stehe ich“ – Menschenrechte in der DDR

Bevor die Schüler sich in den Gebäuden umsehen dürfen, haben sie eine vermeintlich leichte Aufgabe zu lösen. Sechs Aussagen hinter denen sich die Einhaltung oder Verletzung von Menschenrechten verbergen, gilt es zuzustimmen oder abzulehnen. „Reisen ins Ausland finde ich toll“ – eine Aussage, der alle Schüler einstimmig zustimmen. Heute für die Schüler eine Selbstverständlichkeit, überall hinreisen zu können, war die Reisefreiheit zu Zeiten der DDR stark eingeschränkt.

Darüber und über weitere Verletzungen der Menschenrechte erfahren die Schüler bei der Diskussion zu den verschiedenen Aussagen. Nicht immer sind sie dabei einer Meinung: Während sich die Mehrzahl eher für den Traumberuf entscheiden würde, als sich drei Jahre bei der Bundeswehr zu verpflichten, würde eine Schülerin diese Verpflichtung in Kauf nehmen. Auch die freie Berufswahl war zu DDR-Zeiten nicht für jeden Bürger möglich. Die uns heute besonders wichtige Meinungsfreiheit konnte als staatliche Hetze ausgelegt werden und jemanden direkt in dieses Zuchthaus befördern.

„Die DDR-Gesellschaft war der Mehrheit auf den Leib geschneidert“

Gilbert Furian, Jahrgang 1945, war einer der Insassen im Zuchthaus Cottbus. Als Zeitzeuge berichtet er heute den Schülern über die Zeit in Haft. Dabei ist er schonungslos ehrlich, relativiert und erheitert sogar mit kleinen Anekdoten. Er war Mitte der 1980er-Jahre zunächst im Berliner Gefängnis Hohenschönhausen ehe er für ein Vierteljahr in Cottbus im Zuchthaus einsaß. Für ihn war die DDR-Gesellschaft, wie der Mehrheit der Menschen in der DDR, auf den Leib geschneidert.

„Viele waren gar nicht an politischer Freiheit interessiert. Denen ging es eher um eine Grundsicherung. Sie wollten sich nicht um ihren Job sorgen müssen“, so Furian. Linke Utopien und der Glaube an den Sozialismus wären weit verbreitet gewesen. Zur Haft wurde Furian verurteilt, weil er eine selbst verfasste 20-seitige Dokumentation über die Berliner Punkszene vervielfältigt und mit Hilfe seiner Mutter über die Grenze in die BRD schmuggeln wollte. Damit würde er das Ansehen der DDR im Ausland schädigen, war die Begründung seines Vernehmers. Er wurde zu zwei Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt.  Schließlich solle der Westen nicht wissen, dass es in der DDR Punks gab. In seiner Zelle in Cottbus, die er sich mit acht weiteren Häftlingen teilte, hatte er mehr Angst vor den Zellen-Mitbewohnern als vor den Wärtern. „Denn ich bin da rumgelaufen und habe erzählt, dass ich nicht in den Westen will“, so Furian.

30.500  Häftlinge wurden von der BRD freigekauft

Lässt den körperlichen Einsatz einer Flucht erahnen: die Kletterwand im Hof, Foto: LEAG

Im Vorfeld des Gesprächs mit dem Zeitzeugen stellen die Schüler Vermutungen darüber an, ob beispielsweise das stundenlange Sitzen auf einem Hocker mit auf dem Rücken verschränkten Armen während eines Verhörs Folter gewesen sei. Für sie eindeutig ja. Das ist Folter. Gilbert Furian schüttelt den Kopf. „Nein das ist noch keine Folter. Schlafentzug und Prügel sind Folter.“

Gilbert Furian hatte sich geschworen, so berichtet er selbst, keine Angriffsfläche zu bieten, um jedweder Bestrafung zu entgehen. So gibt er in den Gesprächen mit seinem Erzieher genau die Auskünfte, die dieser von ihm erwartet. Darüber entsteht ein beinah freundschaftliches Verhältnis. Das bezeugt er mit der Anekdote über eine Tina-Turner-Platte, die der Erzieher ihm mit einem Plattenspieler für einen Abend in seine Zelle ausgeliehen hatte.
Mit seiner Überstellung an den Westen war Furian nicht einverstanden. Er intervenierte während der Übergabe in Karl-Marx-Stadt und weigerte sich, in den Bus Richtung Westen einzusteigen. Mehr als 30.000 Häftlinge hat die DDR an die BRD verkauft. In der Hoffnung auf eine Übergabe an den Westen, provozierten einige Menschen bewusst eine Haft. Zunächst „verkaufte“ die DDR die Häftlinge für Bargeld in DM, später für Güter wie Obst.
Furian wurde aufgrund seines guten Verhaltens vorzeitig aus der Haft entlassen. „Ich meldete mich freiwillig zu jeder Sonder-Arbeitsschicht, um meinen Mithäftlingen zu entkommen und die Chancen auf vorzeitige Entlassung zu erhöhen“. Seit 1996 führt er Menschen durch das Gefängnis in Hohenschönhausen. Mit der Gründung des Menschenrechtszentrums in Cottbus spricht er als Zeitzeuge mit Interessierten auch hier.

Versöhnliche Momente zwischen Häftling und Erzieher

Die Tina-Turner-Platte ist heute in seinem Besitz. Bei der Fidelio-Aufführung im Innenhof des Zuchthauses vor zwei Jahren kam eine Journalistin mit ihm und seinem Erzieher dazu ins Gespräch und fragte, ob der Erzieher diese Platte noch hören würde. Nein, er höre jetzt nur noch CDs, antwortete dieser. „Ich hätte sie gern“, entfuhr es da Gilbert Furian. Tage später, abseits der Öffentlichkeit, übergab der Erzieher die Platte an seinen ehemaligen Häftling Gilbert Furian. Mit dieser versöhnlichen Anekdote endet das Zeitzeugengespräch für die Schüler. Danach heißt es „Ich mach mal rüber“ an der künstlerisch gestalteten Kletterwand auf dem Innenhof des Zuchthauses.

Schüler sollen sich mit ihrer Heimat intensiver beschäftigen

Peter Albert, Vorsitzender der Bürgerstiftung Cottbus und Region, freut sich, dass mit diesem Projekttag die Stadt und die Region mit ihren geschichtlichen Hintergründen  den Jugendlichen etwas näher gebracht wurde. „Indem wir gemeinsam mit der Stiftung Lausitzer Braunkohle allen Schülerinnen und Schülern kostenfrei den Besuch im Menschenrechtszentrum ermöglichen, machen wir Geschichte interessant und erlebbar. Wir hoffen, dass wir die Teilnehmer dadurch anregen, sich auch darüber hinaus mit ihrer Heimat intensiver zu beschäftigen“, so Peter Albert weiter.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst im Vattenfall Blog

Haben Sie Fragen oder Anmerkungen?

Dann schreiben Sie uns

Themen

Teilen

Autor

Kathi Gerstner

Direkt nach meinem Studium der Kulturwissenschaften hatte ich die Möglichkeit, in vielen Bereichen der Kommunikation unseres Energieunternehmens tätig zu sein. Seit mehr als zehn Jahren gehöre ich zum Team der Pressesprecher. Dort bin ich Ansprechpartnerin für die Medien zu allen Themen der LEAG-Geschäftswelt.  

Mehr von Kathi Gerstner